Notizen zur Herbstbeilage der taz erschienen am 17.10.2023

30. Oktober 2023. Im Herbst erscheinen die Buchmessenbeilagen der großen Zeitungen. Der Perlentaucher wertet sie aus und verfasst zu jeder Kritik in diesen Beilagen eine resümierende Notiz. Auch auf eichendorff21 können wir so einen Überblick über jene Bücher geben, die von den Zeitungen im Herbst als besonders wichtig erachtet werden. Hier die Literaturbeilage der TAZ für Herbst 2022.

Ganz rund ist Jörg Magenaus Roman nicht geworden, meint Rezensent Wolfgang Schneider. Das erste fiktionale Buch des Literaturkritikers spielt in den Achtzigerjahren, zunächst in einem linken Berliner Lesekreis, später in Nicaragua, wohin es einen besonders eifrig Friedensbewegten, treibt, erzählt der Kritiker. Diese Hauptfigur, Paul, macht in Mittelamerika nicht die Erfahrungen, die er zu machen hoffte und kehrt schließlich reumütig nach Berlin zurück. Schneider lobt die Nicaraguapassagen und findet, dass Magenau … mehr

Interessiert liest Rezensent Christian Thomas Mikhail Zygars Buch über die russisch-ukrainische Konfliktgeschichte. Der russische Journalist Zygar, der heute im deutschen Exil lebt, setzt im 17. Jahrhundert an, mit einer von Innozenz Giesel verfassten Abhandlung, die den Machtanspruch Moskaus in der Ukraine untermauern sollte und die tatsächlich in Kiew entstand, erzählt Thomas. Dabei zeichnet er die oft von russischen Manipulationen bestimmte russisch-ukrainischen Geschichte nach und kommt dabei auf interessante Figuren wie … mehr

Insgesamt nicht abgeneigt ist Rezensentin Tanja Dückers von Stefanie Lohaus' Überblick über die Entwicklung feministischer Strömungen in Deutschland in den letzten fünfzig Jahren: Die Autorin stellt verschiedene Aspekte von Gender Pay Gap bis Queer sein in den Vordergrund und plädiert dafür, aufgrund der Vielfalt der Bewegungen nicht von einem Feminismus, sondern von Feminismen zu sprechen. Das ist oft klug und eindrücklich und trägt mit diesem pluralistischen Ansinnen sicherlich dazu bei, … mehr

Für Rezensent Christian Marty bietet die Politikwissenschaftlerin Wendy Brown mit ihrem Buch über Max Weber als Guide aus dem um sich greifenden Nihilismus vor allem "Gefälligkeitswissenschaft" im Sinne Hans Blumenbergs. Indem die Autorin Webers Schriften "Politik als Beruf" und "Wissenschaft als Beruf" auf deren Ideen zur Verwirklichung von wissenschaftlich und politisch erörterten Werten hin abklopft, lässt sie Webers elitäres Wissenschafts- und Politikverständnis unter den Tisch fallen, moniert Marty. Browns optimistische Weber-Lektüre ist dem Rezensenten … mehr

Spätestens seit MeToo ist der Begriff des "sexual consent", des einvernehmlichen Sex, in aller Munde, weiß Anna-Lisa Dieter, viele feministische Philosophinnen beschäftigen sich damit, am ertragreichsten wohl Manon Garcia, Professorin an der Freien Universität Berlin. Garcia fragt nach den Bedingungen, unter denen Zustimmung erfolgt, so Dieter, und stellt heraus, wie mehrdeutig der (französische) Begriff des consentement ist, was leider in der Übersetzung nicht so ganz zum Tragen kommt, wie sie bemängelt. … mehr

Es sind gerade auch die Widersprüchlichkeiten, die das Werk Hannah Arendts ausmachen, stellt Rezensent Magnus Klaue mit der Biografie des Philosophen Thomas Meyer aufs Neue fest. Diese "gewisse Inkonsistenz" ihrer Philosophie ist wohl auch der Grund, warum sich Arendt bei den unterschiedlichsten politischen und intellektuellen Bewegungen großer Beliebtheit erfreut und warum sie dabei auch falsch interpretiert wurde, erklärt Klause. So beziehe sich zum Beispiel Judith Butler auf Arendt aufgrund ihrer "vermeintlichen Zionismus-Kritik". … mehr

Steffen Mau und Thomas Lux erklären im Tagesspiegel-Gespräch, was sie unter "Triggerpunkten" verstehen: "Das sind Sollbruchstellen der öffentlichen Debatte, bei denen sachliche Diskussionen in emotionale umschlagen und sich die Menschen anders positionieren, als sie es zuvor getan haben", führt Mau aus.

Nicht viel Freude hat Rezensent Eberhard Falcke mit Thomas von Steinaeckers Roman, und zwar vor allem, weil er den Erzähler Sebastian für schlecht konstruiert hält. In der Erzählgegenwart des Jahrs 2039 befindet sich der in der norwegischen Einsamkeit, erfahren wir, die Geschichte entfaltet sich in Rückblenden, die bis in die 1980er zurück reichen. Im bildungsbürgerlichen Milieu aufgewachsen, tendiert Sebastian später politisch nach links, zeichnet der Rezensent die fiktionale Biografie nach, … mehr

Rezensent Diedrich Diederichsen wird soghaft hineingezogen in Navid Kermanis neues Buch, das im Gegensatz zu seinem letzten in seiner Themenwahl einen deutlichen Hang zu "Doom und Verzweiflung" aufweise: "Sterbeerzählung", Trauer, Älterwerden. Die Ich-Erzählerin, eine Schriftstellerin, beginnt ein Projekt, das es dem Autor laut Rezensent erlaubt, sein spezielles Talent zu entfalten, nämlich das "Abenteuer des Lesenden" zu erzählen: sie beginnt, ihre Bibliothek "von A bis S" durchzulesen. Diese Vermischung von "Philologie, Rezension und Fanfiction" beschert dem Rezensenten nicht nur faszinierende Leseerlebnisse, … mehr

Rezensent Robert Misik schwärmt für Karl Schlögels "packendes" Buch über den Mythos Amerika. Dabei beobachtet der Autor selbst laut Misik eher zurückhaltend und lässt andere für sich sehen: Tocqueville, Weber, Kerouac oder sowjetische Autoren, die in den USA der 1930er Vorbilder suchten und fanden, um in der Heimat einen "Soviet Americanism" zu etablieren. Schlögels umfangreiche Expedition ist für Misik eher "Lektürebericht", aber nicht darum nicht weniger spannend. Durch die Augen der … mehr

"Aktuell und nötig" findet Rezensent Tim Caspar Boehme den Debütroman von Dana Vorwinckel, in dem eine Familie nur noch durch ihre jüdische Herkunft verbunden zu sein scheint. Das Verhältnis zwischen Avi, Marsha und deren gemeinsamer jugendlicher Tochter Margarita ist höchst angespannt: Der Kantor Avi und Margarita leben in Deutschland, Marsha in den USA, erfahren wir. Alle drei treffen im Verlauf der Handlung in Jerusalem aufeinander und reisen zusammen durch Israel. Das "bewegte Miteinander" … mehr

Rezensentin Paula Keller bedankt sich bei der Philosophin Elif Özmen für wertvolle Definitionsarbeit in Sachen Liberalismus. Was und wer prägte die liberale Tradition? Özmens Erkenntnisse findet Keller so lesenswert, weil die Autorin sich nicht auf eine strikte Definition festlegt, sondern Ähnlichkeitspaare findet: Hobbes und Kant, Mill und Marx oder auch Hobbes, Mill und Popper (wenn es um die Einschränkung staatlicher Gewalt geht). Für Keller ein erfrischender Ansatz.

Prächtig amüsiert hat sich Rezensentin Marlen Hobrack bei der Lektüre von Michel Decars Kleinkünstler-Roman. Hauptfigur László Carassin leidet so offensichtlich an Selbstüberschätzung, dass er auf den Leser nur liebenswürdig wirken kann, meint Hobrack. Der nicht gerade erfolgreiche Kleinkünstler gewinnt zur Abwechslung 7.500 Euro und geht damit erstmal nach Bulgarien, um seinen Lebensabend dort zu verbringen - was mit der Summe ja kaum gelingen kann, spöttelt Hobrack. Decar schafft es, so … mehr