Notizen zur Herbstbeilage der FAZ im November erschienen am 26.11.2022

7. Dezember 2022. Im Herbst erscheinen die Buchmessenbeilagen der großen Zeitungen. Der Perlentaucher wertet sie aus und verfasst zu jeder Kritik in diesen Beilagen eine resümierende Notiz. Auch auf eichendorff21 können wir so einen Überblick über jene Bücher geben, die von den Zeitungen im Herbst als besonders wichtig erachtet werden. Hier die Literaturbeilage der FAZ für Herbst 2022.

Eine wahnsinnige Wucht entfaltet Annie Ernaux in "Die Scham", wenn sie schon im ersten Satz die Todesdrohung des Vaters an die Mutter wiedergibt, meint Rezensent Alexander Kosenina. Für ihn wird daraus klar, warum sie sich schämt: Weil sie nicht zu den "anständigen Leuten" gehören, sondern zu denen, bei denen Gewalt vorkommt, die in beengten Verhältnissen leben, die aufgrund ihrer sozialen Klasse kaum Zugang zu Kultur und zu anderem Denken haben. Das Hörbuch, … mehr

Rezensent Peter Sturm muss angesichts der Arbeit der BND-Historikerkommission feststellen, dass auch "amtliche" Geschichtsschreibung funktioniert. Gerhard Sälters Abschlussband zu NS-Kontinuitäten im BND kann er jedenfalls Sorgfalt und Distanz zum Gegenstand attestieren, manchmal vielleicht sogar zu viel des Guten. Sälter zeigt dem Rezensenten jedoch, wie viele Ex-Nazis sich über ihre Netzwerke im Nachrichtendienst breit machen konnten. Verheerend war die Rekrutierungspraxis über persönliche Bekanntschaften, erfährt Sturm, der sich auch mit Schaudern fragt, … mehr

Für Rezensent und Politikwissenschaftler Ralph Rotte rückt Friederike C. Hartungs Buch Olaf Scholz' in seiner Prager Rede im August geäußerte Zusage an eine europäische Luftabwehr ins rechte Licht. So zeigt ihm Hartungs "materialreiche" und differenzierte Studie, die sich mit der Entwicklung der deutschen Raketenabwehr seit Ende des Kalten Krieges befasst, deutlich, dass solche Lippenbekenntnisse vor dem Hintergrund dieser Entwicklung mit Vorsicht zu genießen sind. Denn nachdem nach Ende des Ost-West-Konflikts … mehr

Rezensent Jürgen Osterhammel ergötzt sich an Martin Mulsows laut Rezensent ein wenig im Stil Hans Blumenbergs verfasster weit ausgreifender Erkundung der europäischen Gelehrtengeschichte. Mulsows Expertise auf diesem Gebiet steht für Osterhammel außer Zweifel. Und so lauscht er hingebungsvoll, wenn der Autor über globale Ideenmobilität ante litteram berichtet oder in Fallstudien den Verzweigungen des Hermetismus nachgeht. Die durch Theorie und Begriffe wie Kontext, Rahmen, Lieferkette gebändigte Materialfülle macht das Buch für … mehr

Überwältigt zeigt sich Rezensent Hubert Spiegel von diesem dritten Teil von Günther Rühles Geschichte des Theaters in Deutschland. Von den beiden Vorgängerbänden unterscheidet sich dieser Abschlussband darin, dass Rühle hier Inszenierungen behandelt, die er selbst als Kritiker beziehungsweise später als Intendant des Frankfurter Schauspiels gesehen hat. Spiegel liest gebannt nach, wie Peter Palitzsch mit Shakespeares Rosenkriegsdramen den Vietnamkrieg auf deutsche Bühnen holte, wie Einar Schleef mit seiner "Mütter"-Inszenierung das Publikum … mehr

Es handelt sich um die Habilitationsschrift des knapp dreißigjährigen Philosophen. Er selbst hatte sie gar nicht zur Publikation vorgesehen und überarbeitet, merkt Rezensent Hermut Mayer an. Für ihn ist die Lektüre dennoch gewinnbringend. Sie stellt für ihn Kontinutäten im Werk Blumenbergs her. Auch damals schon ging es also um die "annihilatio des Wirklichkeitsbodens der Neuzeit im ganzen". Descartes, Husserl und Heidegger sind die Planeten, um die diese Schrift kreist. Um den Kontext zu ergründen empfiehlt Mayer … mehr

Wolfgang Matz, einst Lektor des Hanser-Verlags, liefert hier eine kenntnisreiche und begeisterte Rezension dieser großen Briefedition, die, wie er beteuert, dem Komponisten, Schönberg-Schüler und Adorno-Lehrer Eduard Steuermann endlich das fällige Denkmal setzt. Allein die 200-seitige Einleitung zu Steuermann sei ein veritables Buch. In den drei Briefwechseln werde diese Figur dann von drei sehr spezifischen, jeweils interessanten Standpunkten her beleuchtet. Hinzukommt der große Apparat des Buchs, der den Kontext ungeheuer detailreich … mehr

Die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel kennt ihren in Stanford lehrenden italienischen Kollegen als schillernden Theoretiker, der einerseits mit genauer Lektüre aus dem europäischen Roman eine Mentalitätsgeschichte des Bürgertums destillierte, anderseits zum Propagandisten des Distant Readings wurde. In seiner Studie "Falsche Bewegung" nun vollzieht er eine radikale Kehrtwende und erklärt das Projekt der "digital humanities" für gescheitert. Das überrascht Weigel nicht, die quantitative Literaturanalyse scheint ihr von vornherein allein einer fragwürdigen Drittmittelpolitik geschuldet gewesen … mehr

Rezensentin Sandra Kegel wundert sich, dass Monika Fagerholm in Deutschland trotz ihres unverwechselbaren Werks so unbekannt ist und hofft, dass sich das mit "Wer hat Bambi getötet", kongenial von Antje Rávik Strubel übersetzt, nun ändert. Die Geschichte habe eine Gruppenvergewaltigung zum Thema, sie frage nach den Geschichten von Opfer und Tätern. Die brutale Handlung trifft hier auf eine fast malerische Sprache, meint Kegel, auch die vielen kulturellen Verweise tragen zu einem intensiven Geflecht … mehr

So viel vorweg: Tim Blannings Epochendarstellung der Jahre 1648 bis 1815 ist extrem gut lesbar, versichert Rezensent Andreas Kilb. Denn der bitische Historiker trifft genau die richtige Mischung aus Analyse und Anekdote, fährt der Kritiker fort, der hier den Alltag jener Jahre in allen Farben kennenlernt. Aber das ist nicht der einzige Vorzug des Buchs, das im Original bereits 2016 innerhalb einer Buchreihe zur europäischen Geschichte erschien, wie Kilb aufklärt. … mehr

Tilman Spreckelsen widmet dem aus dem Nachlass der großen DDR-Autorin Brigitte Reimann herausgegebenen Roman "Die Denunziantin" eine ausführliche Rezension. Zunächst ordnet er den Text biografisch ein: Reimann habe ihn in einer Lebensphase verfasst, deren Selbstzeugnisse sie später vernichtet habe, weshalb der Rezensent ihn besonders "vielversprechend" findet. Vier Fassungen habe die Autorin angefertigt, erschienen sei jetzt die erste mit ausführlichen Verweisen auf die drei folgenden. Sie sei entstanden, als die Autorin erst … mehr

Rezensent Fridtjof Küchemann wirkt berührt von Yaroslava Blacks und Ulrike Jänichens Kinder- und Bilderbuch, das vom Tod erzählt - und zwar in für Kindebücher untypischer Weise, wie er findet: Denn der Tod tritt hier nicht in Form von Tieren auf, sondern die tote Großmutter der jungen Erzählerin sei tatsächlich selbst zu sehen in der Geschichte und in den Bildern, die vom dreitätigen Begräbnisritual in ukrainischer Tradition erzählen. Stellenweise gar nicht … mehr

Einem eigentlich schon auserzählten Plot einer Pubertierenden mit Aggressionsproblem wird von Sarah Jäger neues Leben eingehaucht, findet Rezensent Kim Maurus. In "Schnabeltier Deluxe" gehe es um die dreizehnjährige Kim, die so sehr Stress mit ihrer Mutter hat, dass diese sie zu ihrem früheren Stiefvater aufs Land schickt. Dort lernt sie verschiedene, auch etwas verrückte Charaktere wie den dörflichen Busfahrer oder den Friseur Janne kennen. Die Dialoge mit diesen Figuren findet die … mehr

Rezensent Kai Spanke gibt dem Ökonom Jakob Thomä durchaus Recht, wenn dieser darauf pocht, dass wir die Konsequenzen unseres Handels auch in räumlicher und zeitlicher Ferne berücksichtigen sollten. Oft genug interessant und nicht unreflektiert findet der Rezensent Thomäs Gedankenexperimente oder Berechnungen in diesem Buch. Aber lässt sich wirklich beziffern, dass im 20. Jahrhundert knapp 400 Millionen Menschen allein durch unserern Lebensstil starben? Oder ist das Quatschkopfmathematik? Spanke will Thomäs Rechenbeispiele … mehr

In Judith Holofernes' "Die Träume anderer Leute" kann Rezensentin Elena Witzeck nachvollziehen, wie das ist, als junge Frau in einer Männerdomäne, der Musik, Erfolg zu haben, älter zu werden, Kinder und Krankheiten zu bekommen. Die Sängerin der Band "Wir sind Helden" spare dabei nicht an den Schwierigkeiten, die Comebacks, musikalische Veränderung und auch das Äußere betreffen. Die "Angst vor Grausamkeit", vor der ständigen Negativbewertung, begleite Holofernes dabei besonders und regt Witzeck auch zur Selbstreflexion an, was ihre … mehr

Rezensent Jens Buchholz wird nicht recht schlau aus Moritz Baßlers Buch. Nachdem der Literaturwissenschaftler bereits gemeinsam mit Heinz Drügh einen Entwurf einer "Gegenwartsästhetik" vorgelegt hat, so Buchholz, versuche er nun, die zeitgenössische Literatur unter dem Begriff eines "Populären Realismus" zu fassen. Damit meint Baßler Bücher, die sich nach der Nachfrage des Markts richten und in der Folge leicht verdaulich wie leicht zu übersetzen sind und Tiefe nicht auf sprachlicher, sondern nur … mehr

Rezensentin Anna Vollmer ist begeistert von Julie Völks Spiel mit Drachenklischees, die sie wunderbar widerlege. Die Rezensentin freut sich, dass es in diesem Bilderbuch mal nicht ums Feuerspeien geht, sondern um die ganz profane Frage, wie ein Drache eigentlich aufs Klo geht. Der wirklich sehr elegante Fred besucht nämlich eine menschliche Freundin, doch deren WC könne er aufgrund seiner doch übermenschlichen Proportionen leider nicht nutzen. Letztlich müssen Fred und seine … mehr

Zunächst einmal lobt Rezensent Andreas Platthaus das Verdienst des Hanser-Verlags, seit mehr als zwanzig Jahren Klassiker ins Deutsche zu übertragen. Nun ist also Joseph Conrads "Lord Jim" an der Reihe, übersetzt von niemand geringerem als Michael Walter, freut sich der Kritiker. Und dennoch schaut er genau hin, denn zwar sind die meisten Übersetzungen im Anhang genannt, aber ausgerechnet Klaus Hoffers, laut Kritiker exzellente Übersetzung aus dem Jahr 1998 fehlt. Gerade an … mehr